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06/10/2021

ARTIKEL – « Das rote Gold » Sklavenarbeit in der Landwirtschaft


Artikel von Carole Reckinger für Forum Zeitschrift N.417 - Mai 2021 - Link zur Veröffentlichung : https://www.forum.lu/article/das-rote-gold/

Carole Reckinger arbeitet als Referentin für Sozialpolitik bei Caritas Luxemburg

Tomatenfelder soweit das Auge reicht. Bei glühender Hitze schuften Männer bis zu 12 Stunden am Tag und füllen riesige Kisten mit Tomaten. Der Preis für die Ernte: 3,50 Euro für eine 300 Kilogramm schwere Kiste. 5,50 Euro für 300 Kilogramm Kirschtomaten. Selbst wenn man mit Höchstgeschwindigkeit arbeitet, ist es schwer, mehr als 30 Euro am Tag zu verdienen – und das ohne Arbeitsverträge oder Krankenversicherung. Die Kosten variieren, aber im Durchschnitt müssen die Arbeiter zusätzlich etwa drei Euro für den Transport zu und von den Feldern zahlen. Für das Mittagessen – Sandwich und Wasser – wird oft automatisch drei bis vier Euro berechnet und vom Gehalt abgezogen.


Dies ist kein Beispiel aus irgendeinem Entwicklungsland, sondern Realität mitten in der Europäischen Union. Die größten Tomatenfelder Italiens liegen im Stiefelabsatz. Auf Reiseblogs wird mit fjordartigen Buchten, märchenhaften Städten und unentdeckten Schätzen für Apulien geworben. Touristen verirren sich aber selten in die Tomatenfelder außerhalb von Foggia. Italien ist ein weltweit führender Hersteller von verarbeiteten Tomaten. 2020 wurden in Italien über 5.000.000 Tonnen Tomaten produziert.1


Die Preise für Tomatenverarbeitungsunternehmen, die aus rohen Früchten Konzentrate, Saucen und Ketchups herstellen, werden ständig gedrückt. Diese Verarbeiter passen die Preise, die sie an die Landwirte zahlen, wiederum immer neu an, um ihre Gewinnspanne aufrechtzuerhalten. Eine kürzlich durchgeführte Kampagne für „faire Preise“ (gestartet von der Umweltschutzorganisation Legambiente und dem ethischen italienischen Supermarkt NaturaSì) hat gezeigt, wie tief die Preise gefallen sind: Die Landwirte erhalten etwa 7,5 Cent für ein Kilo Tomaten in Italien.2


Moderne Sklaverei
Die Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigranten in Italien – hauptsächlich Afrikaner – sind seit Jahren ein offenes Geheimnis. Im italienischen Süden sind die Gehälter ausländischer Landarbeiter so niedrig, dass viele NGOs die geleistete Arbeit als moderne Form der Sklaverei beschreiben. Einige haben eine italienische Aufenthaltserlaubnis, viele jedoch nicht. 2020 sind mehr als 34.000 Flüchtlinge und Migranten mit Booten in Süditalien angekommen. Das sind weit weniger als die über 180.000 Menschen, die 2016 nach Italien geflüchtet sind3 – aber dennoch deutlich mehr, als es 2019 nach Italien geschafft haben.


Wegen der Überlastung des Systems kann es Jahre dauern, bis ein Asylantrag bearbeitet wird. In den Aufnahmezentren für Flüchtlinge gibt es nur begrenzt Plätze, und die meisten Migranten leben auch während ihrer Asylprozedur außerhalb dieser Einrichtungen. Von den über 43.000 Asylanträgen 2019 wurden 81 % abgelehnt.4 Selten allerdings werden abgelehnte Asylanten abgeschoben. Die meisten bekommen ein Schreiben, welches sie auffordert, in X Tagen das Land zu verlassen. Die größten Aufnahmezentren für Migranten befinden sich fast alle im Süden, wo Mafia-Organisationen die größte Kontrolle ausüben und die Landwirtschaft eine ständige Versorgung mit billigen Arbeitskräften erfordert. Verzweifelt auf der Suche nach Arbeit würden diese Tagelöhner jeden Job annehmen, selbst wenn die Löhne für die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden viel zu niedrig sind. Arbeiter ohne Papiere befinden sich außerhalb des Gesetzes, sodass sie keinen Schutz erwarten können.

©Carole Reckinger - Tomatenfelder in Foggia, Italien

Inzwischen macht
die Landwirtschaft
schätzungsweise
15 % des
Gesamteinkommens
der Mafia aus.

Obwohl keine offiziellen Daten zur illegalen landwirtschaftlichen Arbeit zur Verfügung stehen, schätzt die größte italienische Gewerkschaft der
Landarbeiter (FLAI-CGIL), dass zwischen 400.000 und 430.000 Arbeitnehmer in diesem Sektor einen irregulären Visastatus haben und anfällig für Ausbeutung und Missbrauch sind.5 Der Global Slavery Index nimmt an, dass es etwa 50.000 versklavte Landarbeiter in Italien gibt (insgesamt wären 145.000 Menschen versklavt, u. a. im Bereich der Prostitution und Haushaltshilfe).6


Afrikanische Migranten kommen normalerweise mit hohen Schulden nach Italien, nachdem sie sich Geld geliehen haben, um ihre Reise nach Europa zu finanzieren. Sie kennen oft niemanden, wenn sie ihr Ziel erreichen, und haben niemanden, an den sie sich bei Schwierigkeiten wenden können. Nur wenige offenbaren den Verwandten zu Hause die verzweifelte Situation, in der sie sich befinden. Um zu überleben, migrieren die Arbeiter oft von einer Arbeitsmöglichkeit zur nächsten. Nach einem Winter in Kalabrien, wo Orangen und Kiwis gepflückt werden, fahren sie im Frühling in den Norden nach Kampanien, um Erdbeeren und Melonen zu ernten. Im Sommer geht es weiter nach Apulien, um Tomaten und Paprika zu pflücken, bevor sie im Frühherbst zur Traubenernte nach Venetien oder ins Piemont ziehen.


Das italienische Agromafia-Observatorium, eine Organisation, welche kriminelle Eingriffe in die Lebensmittelkette analysiert, schätzt, dass der Wert des Lebensmittelgeschäfts für die organisierte Kriminalität im Jahr 2018 um 12,4 % gestiegen ist, um nun auf eine Summe von 24,5 Milliarden Euro zu kommen. Das Observatorium schätzt, dass die Landwirtschaft inzwischen 15 % des Gesamteinkommens der Mafia ausmacht.7


Um dem coronabedingten Arbeitskräftemangel zu begegnen, hat Italien, so wie Spanien, Maßnahmen eingeführt, die es Migranten vorerst ermöglichen, offiziell im Agrarsektor zu arbeiten. Es besteht jedoch die Sorge, dass dies zu einer noch stärkeren Ausbeutung durch die Mafia führen könnte. Die italienische Regierung und verschiedene Arbeitsrechtgruppen warnen, dass dieses System der modernen Sklaverei wahrscheinlich zunehmen wird, da die Ausgangssperren wegen COVID-19 zu einem chronischen Arbeitskräftemangel geführt haben.8

Die Absurdität der Globalisierung
Die Absurdität der ganzen Geschichte ist, dass viele westafrikanische Männer, die auf den italienischen Tomatenfeldern arbeiten, selbst aus Familien stammen, die früher vom Tomatenhandel gelebt haben. Noch vor 20 Jahren war der Tomatenanbau in Ghana weit verbreitet. Jeder Landwirt baute ein paar Hektar Tomaten an, in der Gewissheit, sie zu einem guten Preis verkaufen zu können. Heute will niemand in Ghana mehr frische Tomaten kaufen. Aus Italien und China importierte Dosen sind viel billiger. Ab dem Jahr 2000 hat die Regierung die Einfuhrzölle für bestimmte Produkte, einschließlich Tomatenmark, gesenkt und somit mittelfristig eine Flut ausländischer Produkte auf den lokalen Märkten verursacht. Die Food and Agriculture Organization (FAO) hat von 1998 bis 2003 einen Anstieg der Tomatenpasten-Importe um 650 % berechnet. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil ghanaischer Tomaten auf dem lokalen Markt von 92 % auf 57 % gesunken.9 Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge aus Ghana pflücken jetzt zu einem Hungerlohn Tomaten in Italien, die wiederrum zu Tomatenmark verarbeitet nach Ghana verkauft werden, wo sie die lokalen Märkte weiter kaputt machen.


Vor kurzem haben europäische Medien berichtet, dass viele verarbeitete Tomaten, die als Tomatenprodukte aus Italien gekennzeichnet und beworben werden, tatsächlich aus China stammen. Hier verdienen die Arbeiter und Bauern noch weniger – in China erhalten die Bauern teilweise nur einen Cent pro Kilogramm Tomaten.10


Lösungen?
Zertifizierungssysteme, die bestätigen, dass Produkte nicht aus Sklaverei stammen, sind Teil der Lösung.Allerdings ist die Rückverfolgbarkeit bei Produkten aus der Dose schwierig, und bei losen Früchten oft noch schwieriger. In Italien kommt das Problem hinzu, dass die Branche in großen Teilen von der Mafia kontrolliert wird. Fairtrade-Produkte zertifizieren fair gehandelte Produkte aus nicht EU-Ländern. Es gibt verschiedene Initiativen, um Zertifizierungssysteme für faire Arbeitsbedingungen auch in der EU einzuführen, bis jetzt hat sich allerdings noch keines wirklich durchsetzen können – im Gegensatz etwa zu Biolabels. Ein Beispiel aus den USA zeigt aber, dass Druck von Arbeitern und Konsumenten zu Verbesserungen führen kann. Floridas Tomatenfelder wurden Anfang der 2000er Jahre von einem Staatsanwalt der US-Regierung zum „ground zero for modern day slavery“ erklärt. Ähnlich wie in Italien wurden in Florida Landarbeiter misshandelt und sogar gegen ihren Willen festgehalten und gezwungen, auf den Feldern zu arbeiten. Ende 2010 wurde ein Wendepunkt erreicht. Die Coalition of Immokalee Workers, eine Gruppe von Landarbeitern, hat die Öffentlichkeit auf das Problem des Missbrauchs durch Lebensmittelhändler und Fast-Food-Ketten aufmerksam gemacht. Da ihr Ruf bei den Verbrauchern auf dem Spiel stand, einigten sich diese Unternehmen darauf, Tomaten (und jetzt zunehmend Paprika und Erdbeeren) nur von Bauern zu kaufen, die strenge Standards unterzeichneten (Kontrolle von Arbeitsstunden und Löhnen, Einhaltung von Ruhephasen sowie Verhinderung sexueller Missbräuche und verbaler Belästigungen). Das „Fair-Food-Programm“ der Koalition schuf im Wesentlichen ein neues Modell für landwirtschaftliche Arbeit und soziale Verantwortung der Unternehmen. Alle Parteien – Arbeiter, Erzeuger und Käufer – haben davon profitiert. Tomatenpflücker in Florida werden nun besser bezahlt. Lohndiebstahl, körperliche Gewalt und sexuelle Übergriffe sind zurückgegangen. Gleichzeitig haben die Erzeuger eine stabilere und produktivere Belegschaft. Einzelhändler erzielten eine zuverlässigere Lieferkette und pflegten das Vertrauen zu ihren Kunden.11 Dieses Programm konnte die Menschenrechte der Landarbeiter so erfolgreich sichern, dass es von den Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und dem Programm Horizont 2020 der Europäischen Kommission anerkannt wurde. Trotz dieser Lobeshymnen gibt es bisher keine parallelen „Fair-Food-Programme“ in Europa.


Die Nachfrage nach Produkten, die in fairen Verhältnissen hergestellt wurden, wächst stetig in Europa. Die Luxemburger konsumieren im Durchschnitt für 35,60 Euro pro Jahr unter dem Label Fairtrade gehandelte Produkte.12 Mit einem Gesamtumsatz von 21,85 Millionen Euro in Luxemburg wurde eine 13-prozentige Steigerung erreicht. Relativ betrachtet belegen die Luxemburger beim Konsum von Fairtrade Produkten Platz sechs weltweit.13 Die Lösung ist nicht, keine italienischen Tomaten mehr zu kaufen, sondern mehr Transparenz und mehr Kontrolle zu fordern. Als Konsumenten dürfen und sollten wir fordern, dass unser Essen nicht nur gesund ist, sondern auch Arbeitsrecht und Menschenwürde respektiert.

  1. https://news.italianfood.net/2020/12/09/canned-tomatoitaly-leads-the-european-ranking/ (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 26. April 2021 aufgerufen).
  2. https://tinyurl.com/z6sas6a7
  3. https://www.statista.com/statistics/623514/migrant-arrivals-to-italy/
  4. https://asylumineurope.org/reports/country/italy/statistics/
  5. https://www.globalslaveryindex.org/2018/findings/country-studies/italy/
  6. Ebd.
  7. https://tinyurl.com/sbh8xxae
  8. https://tinyurl.com/rrkrspc
  9. https://webapps.aljazeera.net/aje/custom/2014/italiantomato/index.HTML
  10. https://www.swrfernsehen.de/marktcheck/tomaten-128.html
  11. https://ciw-online.org
  12. https://www.tageblatt.lu/headlines/bilanz-fuer-2019-viele-bananen-viel-kakao-weniger-rosen/
  13. Ebd.